Bioverfügbarkeit, Chemical Score, PDCAAS – sinnvolle Maßstäbe?
Über die biologische Wertigkeit von Eiweiß
Biologische Wertigkeit ist ein recht bekannter Begriff. Je höher sie ist, desto wertvoller ist anscheinend die Proteinquelle, die gerade auf dem Teller liegt. Manche wissen vielleicht auch, dass “Vollei“ auf der biologischen Wertigkeitsskala einen Punktestand von 100 verzeichnet – doch was hat diese Zahl zu bedeuten und warum hat denn ausgerechnet Vollei diesen Wert?
Nehmen wir Eiweiß durch unsere Nahrung auf, wird diese durch unseren Verdauungstrakt in appetitliche Häppchen für unsere Darmwand zerkleinert und aufgenommen. Doch Eiweiß ist nicht gleich Eiweiß. Manche Aminosäuren sind für uns wichtiger als andere und finden mehr Verwendung im Körper für unterschiedliche Prozesse und Funktionen. Als Marker für diese “Relevanz“ dient dabei unter anderem Stickstoff. Wie viel Stickstoff findet sich nach einer Mahlzeit im Körper in Relation zum eingenommenen Gesamtwert an Stickstoff, der in der aufgenommenen Nahrung zu finden war – oder anders gesagt – wieviel geht rein und wieviel bleibt drin?
Als Formel wird die biologische Wertigkeit wie folgt beschrieben:
(Stickstoff nach Mahlzeit im Körper / Stickstoff in der ursprünglichen Nahrungsquelle) x 100 = Biologische Wertigkeit
Im Grunde genommen stellt die biologische Wertigkeit ein Maß dafür da, wie ähnlich eine Proteinquelle dem menschlichen Körperprotein gleicht. Schließlich brauchen wir für die Reparatur unseres Körpers die gleichen Aminosäuren, aus denen sie auch bestehen. Eine Relevanz dabei spielen unter anderem auch die essentiellen Aminosäuren wie Lysin, Valin, Leucin, Isoleucin, Tryptophan, Methionin etc. – eine Eiweißquelle ohne eine komplette Liste aller essentiellen Aminosäuren würde von ihrer Wertigkeit her bei 0 liegen. Anders gesagt wären wir mit diesem Nahrungsmittel nicht dazu in der Lage, unseren täglichen Eiweißbedarf voll-wertig zu decken.
Das Vollei hatte als ursprünglich vollwertigste Eiweißquelle den maximalen Wert 100 bekommen, um als Referenzwert für alle anderen Proteinquellen zu dienen. Im Laufe der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass unter anderem Vollei mit Kartoffeln in Kombination ein besseres Aminosäuren-Profil liefern konnten, als das Ei alleine. Aus diesem Grund sind Kombinationen aus Eiweißquellen zu finden, die in ihrer biologischen Wertigkeit über die Zahl 100 hinausgehen. Vollei mit Kartoffeln haben zum Beispiel eine Wertigkeit von etwa 136 – abhängig davon, wie viel vom jeweiligen Nahrungsmittel verzehrt wird.
Biologische Wertigkeit – Kritik
Wie viel Stickstoff im Körper produziert wird und wie gut Aminosäuren durch den Darm aufgenommen werden hängt von einer gewaltigen Vielzahl an individuellen Faktoren ab (zum Beispiel Darmwand-Integrität, momentaner persönlicher Bedarf bestimmter Aminosäuren oder schlichtweg unser doch gerne mal variierender Alltag). Die Referenzen für die Wertigkeit einzelner Aminosäuren wurden durch den Menschen für Menschen bestimmt und unterliegen menschlicher Fehlbarkeit auf mehreren Ebenen. Neben den gerade genannten individuellen Faktoren lässt sich ebenso eine große Menge an Kritik hinsichtlich essentieller und nicht-essentieller Aminosäuren fällen.
Whey Protein wird vom Körper schnell resorbiert, weswegen es sogar im Alleingang eine Wertigkeit von über 100 haben kann (etwa 104) – doch was im Körper mit diesem Eiweiß gemacht wird, ist gar nicht sicher. Durch die schnelle Resorption des Whey-Proteins kann es unter Umständen zu einem starken Anstieg des Insulinspiegels kommen, was zu Stress und oxidativen Mechanismen führen kann. Auch können bestimmte Aminosäuren vom Körper schlichtweg als Energiesubstrat verstoffwechselt werden oder in mancherlei Hinsicht sogar schädlich wirken – damit wären sie zwar effizient aufgenommen, aber nutzlos oder sogar tendenziell problematisch für den Körper. Gute Beispiele sind dafür die Aminosäuren Methionin und Alanin. Stickstoff ist zwar ein fester Bestandteil von Aminosäuren, jedoch im Alleingang genauso wenig ein Referenzwert für den körperlichen Nutzen, wie eine allgemein anerkannte Festlegung über den täglichen Bedarf an Aminosäuren für einen Menschen.
Ist die Chemical Score besser?
Die Chemical Score geht an das ganze Thema etwas anders heran. Viele Prozesse in unserem Körper benötigen meist nicht nur ein Substrat, um optimal zu laufen. Neben Vitaminen und Mineralstoffen gilt das natürlich auch für Aminosäuren. Nehmen wir dafür als Beispiel das sehr wichtige endogene Antioxidans Glutathion heran. Für die körpereigene Synthese von Glutathion brauchen wir drei Aminosäuren: Glutamin, Cystein und Glycin. Währen Glutamin und Glycin vom Körper bis zu einem gewissen Maße selbst produziert werden können, ist Cystein eine essentielle Aminosäure und muss daher von außen zugeführt werden.
Würden wir jetzt zwei verschiedene Eiweißpulver zu uns nehmen, die jeweils aus allen drei Aminosäuren bestehen – jedoch in unterschiedlichen Mengen – würde das Eiweißpulver eine höhere Chemical Score erhalten, das mehr Cystein enthält. Cystein ist also in diesem Beispiel der limitierende Faktor, um den größtmöglichen körperlichen Nutzen aus dem Eiweißpulver zu ziehen – stimmt das so aber?
Chemical Score – Kritik
Während wir uns in dem Beispiel zu Glutathion nur auf drei verschiedene Aminosäuren bezogen haben, ist der Körper natürlich komplexer und auch so entsteht hier wieder ein erster Kritikpunkt: Um die Notwendigkeit einer Dosierung adäquat beurteilen zu können, müssen wir verstehen, was der Körper wirklich braucht! Um diesen Punkt etwas weiter zu verdeutlichen, gehen wir am besten nochmal zum Thema Glutathion zurück:
Während Cystein viele wichtige Aufgaben im Körper hat und unter anderem auch für die Funktionsfähigkeit von Enzymen unerlässlich ist, zerstört es bei höheren Mengen Eiweißstrukturen und kann dadurch der Schilddrüse und noch vielen weiteren wichtigen Organen unseres Körpers schaden (Siehe Artikel: Cystein). Unter anderem findet es aufgrund seiner strukturlösenden Funktion auch eine Verwendung als Schleimlöser (NAC, N-Acetyl-Cystein).
Glycin wird zwar tatsächlich von unserem Körper selber produziert, jedoch sehr oft nicht in ausreichenden Mengen. Vor allem aufgrund unserer heutigen Ernährung, bei der kollagenhaltige Nahrungsmittel wie Knochen, Knorpel, Sehnen und Häute selten auf dem Teller landen, bekommt Glycin eine immer wichtigere Stellung. Vor allem wenn es um die Gesundheit des menschlichen Organismus geht!
Zusammengefasst könnte man also sagen, dass ein Eiweißpulver mit moderater Menge Cystein und einer höheren Dosis Glycin sogar besser wäre – die Chemical Score wäre jedoch wohl anderer Meinung (würde man nur diese drei Aminosäuren herannehmen). Da unser Verständnis über individuelle Faktoren und Bedarf bestenfalls als dürftig bezeichnet werden können, sind sowohl die biologische Wertigkeit als auch die Chemical Score zwar ein überlegter Ansatz – jedoch ohne wirklichen Tiefgang und praktischen Mehrwert.
Was ist mit PDCAAS?
Der “Protein Digestibility Corrected Amino Acid Score“ (PDCAAS) ist an sich eine Erweiterung des Chemical Score. Während weiterhin (wie beim Chemical Score) mit den limitierenden Faktoren essentieller Aminosäuren gerechnet wird, kommt zusätzlich noch die Verträglichkeit für den Darm mit ins Spiel. Anders gesagt wird also zusätzlich beachtet, wie gut die Aminosäuren durch das Verdauungssystem aufgenommen werden. Schließlich möchte man nicht als Ergebnis einen teuren Stuhlgang haben und Bakterien im Dickdarm belustigen. Diese Untersuchung muss natürlich – im Vergleich zum Chemical Score – durch Studien am Produkt durchgeführt werden und ergeben aus diesem Grund eine gewisse finanzielle Belastung für den Hersteller. Macht es aber überhaupt Sinn? Vermutlich kennen die meisten Leser die Antwort schon.
PDCAAS – Kritik
Sicher – die PDCAAS ist sehr ausgearbeitet und gibt die Möglichkeit einer Standardisierung auf hohem Niveau. Limitierende Aminosäuren und Verträglichkeit für den Darm werden aufwändig durch Labors gemessen, um Kunden einen Durchschnittswert der Produkt-Qualität zu zeigen. Das ist nicht unbedingt schlecht, jedoch grenzwertig sinnvoll.
Genauso wie bei der biologischen Wertigkeit und der Chemical Score kommen auch hier wieder die gleichen Kritikpunkte mit ins Spiel. Ein individueller Bedarf und eine individuelle Verträglichkeit von Nahrungsmitteln spielt stets eine Rolle – schließlich sind wir keine Fließbandroboter, die alle identisch sind. Der Begriff „essentiell“ wird gerne missverstanden. Hinsichtlich Aminosäuren wird dabei nicht von einer Relevanz gesprochen – diese Aminosäuren sind also nicht unbedingt „wichtiger“. Essentiell bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich, dass unser Körper diese Aminosäuren nicht selbst herstellen kann. Doch unter Umständen hat es seinen Grund, dass wir manche Aminosäuren nicht selbstständig im Körper produzieren können – vielleicht wären sie ja sogar potentiell schädlich?
Zusammenfassung: Was ist gutes Eiweiß?
Woran erkennt man also nun hochwertige und verträgliche Proteinquellen? Qualität und Nutzen ergeben sich meist aus der Zusammensetzung der Aminosäuren einer Eiweiß-Quelle. Während das zwar bei den o.g. Richtlinien getan wird, sind diese Richtlinien durchaus kritisierbar. Alleine Methionin ist dafür ein imposantes Beispiel. Klüger wäre es also eher – vorausgesetzt man möchte sich wirklich mit seiner Gesundheit auseinandersetzen – zu verstehen, welche Aufgaben welche Aminosäuren erfüllen können, ob sie Nebenwirkungen haben und unter welchen Umständen welche Aminosäuren von besonderem Bedarf sind.
Wenn es um Verträglichkeit geht, spielt meist etwas bisher überhaut nicht Angesprochenes eine Rolle: Rohstoffe, Verarbeitung, Transportwege und Lagerung. Verdickungsmittel, Haltbarkeitsmittel, Schwermetalle, Pestizide, Milchqualität und ähnliche Themen haben einen gewaltigen Einfluss auf die Erträglichkeit der Verträglichkeit und einen Mehrwert im Nährwert. Wissen was man braucht. Wissen woher es kommt. Dann weiß man auch, was man vor sich hat.